Der 163. Geburtstag des Meiji-Tenno
Kaiser Meiji wurde am 3. November 1852 geboren. Er herrschte von 1867 (begann seine Herrschaft also im Alter von 14 Jahren) bis zu seinem Tod am 30. Juli 1912. Sein selbstgewählter Name („aufgeklärte Herrschaft“) – meine japanischen Leser mögen mir diesen Hinweis verzeihen – ist eng verbunden mit der Öffnung Japans gegenüber dem Ausland und seiner rasanten Modernisierung. Seitdem seine Seele 1920 im dafür eigens gebauten Meiji-Schrein eingeschreint wurde, ist die Feier am 3. November dort die wichtigste jährliche Zeremonie. Seit 1948 wird der 3. November landesweit allerdings nicht mehr als Kaiser Meijis Geburtstag begangen, sondern als Tag der Kultur. Ein gesetzlicher Feiertag ist er noch immer.
Dieses Jahr hatte ich Gelegenheit, bei der Großen Shinto-Zeremonie im Schrein dabei zu sein, und ich will gleich vorwegnehmen: ich bin tief beeindruckt. Das Wetter war, was wir in Deutschland „Kaiserwetter“ nennen, strahlende Sonne, blauer Himmel, dabei angenehm kühl. Während der Feier durfte nicht fotografiert werden, so dass ich hier nur ein Bild des wunderbaren Granit-Kiesbodens und einer kaiserlichen Laterne mit dem Symbol der Chrysantheme, das auch sonst überall zu sehen war, wiedergeben kann.
Vor Betreten des Schreingeländes unterzieht man sich einer rituellen Reinigungszeremonie, indem die Hände ab- und der Mund ausgespült werden, im Schrein selber gibt es weitere spirituelle Reinigung durch einen Priester unter Verwendung eines Tamagushi, einem Zweig des im Shintoismus heiligen, immergrünen Sakaki-Strauchs, den man auch in Europa auf mancher Terrasse als Zierpflanze hält.
Die Zeremonie dauerte ziemlich genau zwei Stunden, man saß auf Hockern ohne Lehne, aber es war keinen Moment langweilig. Die Shinto-Priester in verschiedenfarbigen Gewändern und exotisch anmutenden Kopfbedeckungen ziehen unter den ohrenbetäubenden und sich beschleunigenden Schlägen einer riesigen Trommel ein und bringen im inneren Heiligtum verschiedene Gaben (Fisch, Gemüse, Früchte) dar. Dazu wird uralte, in unseren Ohren fremd klingende Musik gespielt: Gagaku aus dem 10. Jahrhundert. Schließlich kommt ein Bote des (jetzigen) Kaisers, bringt ebenfalls Gaben, verliest eine Botschaft und überbringt einen Tamagushi. Nachdem er den Schrein verlassen hat, folgt der Tanz der prächtig geschmückten Schrein-Jungfrauen mit ihren todernsten Gesichtern zu noch älterer Musik, der Kagura. Anschließend bringen Repräsentanten des Shintoismus und weltliche Würdenträger Tamagushis dar, etwa 60 bis 70 Personen, darunter eine Frau. Schließlich geht alles wieder rückwärts: die Opfergaben werden wieder entnommen, das innere Heiligtum verschlossen, die Priester verlassen unter Trommelschlägen den Schrein. All dies, auch der Tanz, erfolgt mit langsam abgemessenen Schritten und sparsamen Bewegungen, ganz ohne Hast und sehr würdevoll.
Bei all seiner Exotik erinnerte mich die Zeremonie in manchem doch sehr an ein katholisches Hochamt: die Dauer, die Gebete, die prächtigen Gewänder, das wiederholte Aufstehen und wieder Hinsetzen, die Verbeugungen, auch die monoton vorgetragene liturgische Sprechweise. Irgendwie scheint der menschlichen Religiosität ein in ganz verschiedenen Kulturkreisen gleiches oder ähnliches Bedürfnis nach Ruhe, Wiederholung und Harmonie innezuwohnen. Ein wichtiger Unterschied zur katholischen Kirche liegt wohl darin, dass sich die Zeremonien in Japan über die Jahrhunderte kaum verändert haben dürften.
Im Anschluss wurde noch ein prachtvolles Schauspiel dargeboten, das in vielerlei Hinsicht ein direktes Kontrastprogramm darstellte: Yabusame, das berittene Bogenschießen. Hier kommt es auf Schnelligkeit und Präzision an, die Zuschauer werden zu Applausstürmen hingerissen. Aber auch hier fußt alles auf uralten Traditionen, von der Kleidung der Bogenschützen und der Helfer über die Zäumung der Pferde bis hin zur Tatsache, dass all dies in einem heiligen Ernst durchgeführt wird: bei der abschließenden Entgegennahme des Applauses kann nur einer der fünfzehn Reiter nicht anders als ganz kurz zu lächeln. Wie sie aber in gestrecktem Galopp drei Ziele hintereinander mit ihren Pfeilen treffen – nicht alle schaffen das -, das begeistert die japanischen und die ausländischen Zuschauer gleichermaßen.