Vergangenheit und Zukunft, Teil 1
Vor wenigen Tagen haben wir den Tod von Bundespräsident a.D. Richard von Weizsäcker betrauert. Er war in vielerlei Hinsicht ein großer Bundespräsident, aber vor allem ist er mit seiner Rede am 8. Mai 1985, 40 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in Erinnerung geblieben. Ein Satz daraus ist in vielen japanischen Zeitungen zitiert worden: „Wer aber die Augen vor der Vergangenheit verschließt, wird blind für die Gegenwart.“ Ich war berührt zu sehen, wie viele Japaner sich in das Kondolenzbuch eintrugen, das wir in der Botschaft aufgelegt hatten, Politiker, hohe Beamte, Diplomaten, aber auch sog. „einfache“ Menschen, die auf Facebook von der Möglichkeit erfahren hatten, ihr Mitgefühl durch ihren Eintrag im Kondolenzbuch auszudrücken. Mit vielen von ihnen habe ich gesprochen, und fast alle haben die Verdienste von Weizsäckers für Vergangenheitsbewältigung und Versöhnung in Deutschland und Europa hervorgehoben.
Einige Tage vorher, genau am 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, hatte mich die Akita International University eingeladen, zum Thema „Deutsch-Französische Versöhnung - was kann man daraus lernen?“ zu sprechen. Im Anschluss an meinen Vortrag entspann sich eine lebendige und ernsthafte Diskussion um die Frage, warum die Versöhnung in Europa möglich war und warum es in Asien so viel schwieriger ist. Am Tag danach berichtete die Akita Sakigake Shimpo, der ich am Nachmittag ein Interview gegeben hatte, auf fast einer ganzen Seite über Vortrag und Diskussion.
Kurz zusammengefasst, habe ich in meinem Vortrag etwa folgendes gesagt: Deutschland und Frankreich, die sich über Jahrhunderte hinweg als Erzfeinde betrachtet und erbitterte Kriege gegeneinander geführt hatten, konnten nach 1945 Freunde und enge Partner werden, weil es weitsichtige Politiker wie Schumann, de Gaulle und Adenauer gab, die nach den schrecklichen Erfahrungen des Weltkriegs gegenseitig die Hand zur Versöhnung ausstreckten, damit so etwas nicht wieder geschehen würde. Sie hätten aber nichts erreicht, wenn der Wille der Versöhnung nicht auch bei den Menschen in Deutschland und Frankreich vorherrschend gewesen wäre. Ein wichtiges Instrument dafür war der Jugendaustausch, in dessen Rahmen die Mehrzahl aller deutschen und französischen Schüler jeweils einige Wochen in Familien des anderen Landes verbrachten und Freundschaften schlossen.
Eine wichtige Voraussetzung für die Versöhnung war auch, dass sich die Deutschen - zugegebenermaßen in einem langen und schmerzhaften Prozess - zu ihrer Verantwortung für die Gräueltaten bekannten, die Deutschland während der Nazizeit begangen hatte. Die Nachkriegsgenerationen, zu denen auch ich gehöre, empfinden keine Kollektivschuld hierfür, aber in ihrer großen Mehrheit eine besondere Verantwortung, dazu beizutragen, dass so etwas nie wieder passiert. Entscheidend dafür ist auch, dass wir all die schrecklichen Geschehnisse zwischen 1933 und 1945 niemals vergessen.
Können andere daraus lernen? Gewiss lassen sich die Erfahrungen, die Deutschland und Frankreich miteinander gemacht haben, nicht auf andere Regionen der Welt übertragen. Aber die Tatsache, dass aus Erzfeinden enge Freunde geworden sind, macht Hoffnung. Und die europäischen Erfahrungen auch zum Umgang mit der Vergangenheit mögen durchaus lehrreich sein für diejenigen, die hier für Versöhnung eintreten. Ich sehe keinen Grund, warum das, was in Europa möglich war, nicht auch in Asien möglich sein kann. Ins Kondolenzbuch schrieb Yohei Kono: "Im Jahr des 70. Jahrestages habe ich denkwürdige Worte empfangen, die ich in meinem Herzen bewahren werde."
Das Jahr 2015 wird noch viele Anlässe bieten, über diesen Themenkomplex nachzudenken und zu diskutieren. Bei Gelegenheit melde ich mich dazu auch von dieser Stelle wieder zu Wort.