Eine Reise durch Tohoku
Einer meiner Vorsätze als Botschafter ist es, alle Präfekturen Japans zu besuchen, die meisten in offizieller Funktion, einige aber auch privat, sozusagen inkognito. Einige offizielle Besuche habe ich schon hinter mir. Als ich Anfang Juli vierzehn Tage Urlaub hatte, beschlossen wir, meine Frau und meine zwei jüngeren Töchter, eine private Reise mit dem Auto durch Tohuku zu machen. Wir hatten von den Schönheiten Tohokus gehört und gelesen und wussten natürlich von den Verwüstungen, die das große Erdbeben und der Tsunami im Jahr 2011 angerichtet hatten. Beides wollten wir nun mit eigenen Augen sehen.
Unser erstes Ziel ist Hiraizumi. Wir haben uns drei Nächte in einem einsam gelegenen Ryokan eingemietet. Von hier aus wollen wir in Tagestouren in Gegend erkunden. Nach der langen Autofahrt genießen wir den Onsen und das traditionelle Abendessen sehr. Die Verständigung klappt ausgezeichnet mit dem wenigen Japanisch, das wir inzwischen gelernt haben, mit ein paar Brocken Englisch, das die Ryokan-Mitarbeiter beherrschten, und mit viel Gestik und Mimik.
Am Tag danach fahren wir nach Kakunodate, ein Ort, der bekannt ist für seine historischen Samurai-Häuser. Zuerst vermuten wir, dass wir uns geirrt haben, denn der Ort ist auf den ersten Blick so unattraktiv wie viele andere. Als wir das Samurai-Viertel gefunden haben, sind wir fasziniert. Von den 350 Kaufmanns- und 80 Samurai-Häusern, die es im 17. Jahrhundert gab, sind noch ein Dutzend übrig. Meine Frau hatte schon vorher das Buch „The Tale of Genji“ in der Übersetzung von Edward G. Seidensticker gelesen und kann sich gut vorstellen, wie in den Häusern und Straßen zugegangen sein muss.
Erst am dritten Tag besuchen wir die zwei Haupttempel in Hiraizumi, beide Weltkulturerbe: zuerst den Chuson-ji, einst ein großes Kloster. Er ist 1337 bei einem Großbrand Opfer der Flammen geworden, mit einer Ausnahme, der Goldenen Halle (Konjiki-do). Heute ist sie hinter Panzerglas zu besichtigen, um das wiederum eine schützende Betonhülle gebaut wurde. Das nimmt ihm ein bisschen von seinem Charme, aber wenn man davorsteht, vergisst man das schnell. Die Gegend sieht ein bisschen aus wie der Schwarzwald in Deutschland, nur dass es im Schwarzwald keine Tempel und Schreine gibt und auch keine japanischen Restaurants.
Von dem zweitem Tempel, dem Motsu-ji, ist nur die wunderschöne, kunstvoll angelegte Parkanlage mit See übrig geblieben. Weil hier keine alten Gebäude mehr stehen, ist ein Stein mit dem berühmten Haiku von Matsuo Basho ausgesprochen passend, zum Glück in englischer Übersetzung:
The summer grass
'Tis all that's left
Of ancient warriors' dreams.
Am Nachmittag fahren wir mit dem Stocherkahn durch die Genbigei-Schlucht, etwa 20 Personen sind an Bord, wir sind die einzigen Ausländer. Sehr geruhsam gleiten wir zwischen schroffen Felsformationen hindurch. Drei Karpfen in den deutschen Farben versammeln sich um unser Boot, als wollten sie uns als Deutsche begrüßen.
Wir machen uns mit einem Teil der japanischen Mythologie vertraut: den Kappa. Das sind kleine Fabelwesen mit schuppiger Haut, Schwimmhäuten an den Füßen und einem Schildkrötenpanzer auf dem Rücken. Auf dem Kopf haben sie eine kleine Delle, die immer mit Wasser gefüllt sein muss; sonst sterben sie oder verlieren zumindest ihre magischen Kräfte. Kappa sind verantwortlich für ansonsten unerklärliche Schwangerschaften, die in die Geburt kleiner Monster münden. Sie ernähren sich gerne von Gurken, aber auch von menschlicher Leber. Wie sie an diese gelangen, verschweige ich lieber. Meine japanischen Leser werden es wissen.
Nachdem wir uns von den freundlichen Ryokan-Besitzern in Hiraizumi verabschiedet haben, fahren wir zu unseren Stützpunkt für die nächsten drei Tage: Morioka, die Hauptstadt der Präfektur Iwate. Hier empfängt uns nach der Stille der letzten drei Nächte, in denen wir nur das Rauschen des Bachs und der heißen Quellen hörten, tosendes Großstadtleben, jedenfalls auf der Haupt-Einkaufsstraße.
Neben dem Kirschbaum, der angeblich einen Felsen gespalten hat, ist Morioka bekannt für seine alten, traditionellen Läden. Es ist nicht ganz einfach, sie zu finden, aber das Suchen lohnt sich: sie sind wirklich sehr nett mit wie immer sehr zuvorkommender Bedienung. Wir kaufen Keramik, Stoffe, Süßigkeiten und eine große Auswahl an Reiscrackern. Dazwischen ruhen wir uns ausführlich in schönen Cafés aus.
Einen Tag haben wir vorgesehen, um an die Ostküste der Präfektur Iwate zu fahren. Unser erstes Ziel ist die Halbinsel Jodogahama, ziemlich genau östlich von Morioka. Hier wie überall in der Gegend hat der Tsunami fürchterlich gewütet. Überall hängen Fotos vom März 2011, auf denen die großen Zerstörungen zu sehen sind. Allein die berühmten Felsformationen haben den Tsunami gut überstanden. Es wird nicht ihr erster gewesen sein. Anschließend fahren wir an der Küste entlang nach Norden. Auch hier sind überall noch die Auswirkungen des Tsunami sichtbar und spürbar. Es gibt riesige Baustellen am Küstenstreifen, und immer wieder sehen wir Containersiedlungen, in denen noch immer Menschen wohnen, deren Häuser zerstört worden sind. Auch die Tsunami-Wälle werden erneuert bzw. verstärkt und höher gemacht. Die unglaubliche Wucht der Wassermassen wird an einigen Gebäuden eindrücklich sichtbar, bei denen die unteren beiden Stockwerke bis auf die Stahlträger weggespült wurden, das dritte Stockwerk beschädigt und die darüber liegenden unberührt sind.
Nach der dritten Nacht in Morioka geht es weiter zu unserem nächsten Ziel: Dewa Sanzan, die drei heiligen Berge in der Präfektur Yamagata. Wir sind fasziniert davon, wie hier Shintoismus, Buddhismus und lokale Bräuche ineinander übergegangen und in die Tradition des „Shugendo“, des Wegs zu übernatürlichen Kräften gemündet sind. Auf dem Hauptberg, dem Haguro-san, herrscht absolute Stille, jedenfalls nachdem die Touristen am Abend den Tempel für die drei Gottheiten der Berge verlassen haben. Vorher laufen wir die knapp 2500 Stufen des Wegs ins Tal hinunter, gesäumt von uralten Zedern, vorbei an der fünfstöckigen Pagode, und dann wieder hinauf.
Wir übernachten in der Pilgerherberge Haguro-Saikan und bekommen zum Abendessen die traditionellen Speisen der Pilger. Da wir früh schlafen gehen, bin ich am nächsten Morgen vor fünf Uhr wach und sehe aus dem Fenster zu, wie es um den fast 2000 m hohen, schneebedeckten Nachbarberg Gassan herum langsam hell wird. Ich bekomme eine Ahnung davon, wie es sein muss, ganz im Einklang mit der Natur zu leben.
Wir fahren zum Churen-ji, in dem der Körper eines Mönchs zu sehen ist, der sich zu Lebzeiten durch Kasteiung und Askese mumifiziert hat (shokushinbutsu). Am Ende des extremen Fastens über fast sechs Jahre hinweg wird der Mönch praktisch lebend begraben, nur mit einem Atemrohr und einem Glöckchen ausgestattet. So beendet er meditierend sein Leben. Wenn das Glöckchen nicht mehr klingelt, wird auch das das Atemrohr versiegelt. Nach einem Jahr holt man den Körper wieder ans Licht, und wenn er nicht verwest ist, weiß man, dass es sich um einen lebenden Buddha gehandelt hat.
Nun treten wir endgültig die Rückreise an. Auf dem Weg machen wir Station in Sakata und besuchen das hinreißende Museum des berühmten Fotografen Domon Ken. Großartig die ausgestellten Fotografien, großartig aber auch die Architektur des Gebäudes. Schließlich übernachten wir in einem luxuriösen Ryokan in der Nähe von Aizu-Wakamatsu und lassen es uns im Onsen und beim Essen noch einmal richtig gutgehen.
Die Reise war ein voller Erfolg. Wir haben die Präfekturen Iwate, Yamagata, Akita und Fukushima besucht, wir haben das moderne und das traditionelle Japan gesehen, wir haben mit der Geschichte, den Religionen und der Mythologie Japans beschäftigt und wir haben seine berühmte Gastfreundschaft genossen. Wir freuen uns schon auf die nächsten Reisen.